Experte: Es könnte noch schlimmer als Tschernobyl kommen

Die Reaktorunfälle in Japan könnten aus Sicht des Strahlenexperten Herwig Paretzke vom Helmholtz-Zentrum München ein Ausmaß wie vor 25 Jahren in Tschernobyl annehmen. Die Nachrichtenagentur dapd sprach auf der Physiker-Tagung in Dresden mit dem Experten.
dapd: Ist denn der Unfall in Japan mit anderen Reaktorunfällen vergleichbar, etwa in Harrisburg oder Tschernobyl?
Paretzke: Er ist auf jeden Fall mit Harrisburg vergleichbar. Technisch sind die Umstände sehr ähnlich. Die Situation hat das Potenzial einer Weiterentwicklung, die sogar noch schlimmer wäre als Tschernobyl, weil die Gegend in Japan viel dichter besiedelt ist und viele Industrieanlagen stärker betroffen sein könnten.
dapd: Bislang sollen schon knapp 160 Menschen verstrahlt worden sein.
Paretzke: Diejenigen, die direkt auf dem Gelände interveniert haben, können kontaminiert worden sein. Die Zahl ist plausibel.
Allerdings bezweifle ich, dass es außerhalb des Geländes eine nennenswerte Bestrahlung gab und bislang Leute deswegen ins Krankenhaus mussten. Mit der Evakuierung im Umkreis von 20 Kilometern haben die Japaner auf jeden Fall die richtige Entscheidung getroffen.
dapd: Ist diese Maßnahme in solch einem Fall denn ausreichend?
Paretzke: Erst einmal muss eine solche Evakuierung von 160.000 Menschen gut überlegt sein. Es könnte zu Panik kommen. Außerhalb der 20-Kilometer-Zone liegt die externe Strahlenbelastung bei einem Unfall schlimmstenfalls bei einigen Millisievert. Studien zur Reaktorsicherheit zeigen, dass in dieser Entfernung keine akute Strahlenerkrankung mehr droht. Allerdings werden die sogenannten Radionuklide, kleine strahlende Teilchen, durch atmosphärischen Transport auch noch weiter als 20 Kilometer vertrieben.
dapd: Was bedeutet das?
Paretzke: Radionuklide liegen dann auf dem Boden und auf Häuserwänden herum und bestrahlen dort anwesende Menschen noch über lange Zeit. Ein Strahlenschutz-Problem dagegen ist etwa, wenn Cäsium nass wird - und das passiert bei Tau jeden Morgen und Abend. Man kann es nicht mehr einfach abwaschen. Häuser oder ganze Stadtteile könnten so längerfristig kontaminiert werden.
dapd: Welche Maßnahmen könnten die Folgen eines solchen Unfalls eindämmen?
Paretzke: Ich empfehle seit langem sogenannte Kiesbettfilter. Das ist ein etwa einhundert Meter langes, abgeschlossenes dickes Rohr mit Kiesfüllung. Dadurch kämen bei einer Freisetzung aus dem Druckbehälter rund zehnmal weniger radioaktive Partikel nach außen. Das wird in Deutschland aber offensichtlich nicht gemacht. In Japan werden gerade Jodtabletten verteilt, um eine eventuelle Aufnahme von Radiojod in die Schilddrüse zu verhindern. Das ist sicherlich sinnvoll.
dapd: Wie steht es um das Thema Strahlenschutz in Deutschland?
Paretzke: Hierzulande gibt es nur noch sehr wenige Fachleute, weil immer mehr Lehrstühle abgebaut werden. Und dass, obwohl es im Bereich Medizin, der natürlichen Strahlenexposition oder bei der Bundeswehr noch viele wichtige Strahlenschutzfragen zu lösen gibt. Die beiden einzigen universitären Strahlenschutzprofessoren in Deutschland sind im Ruhestand.













